PROJEKT PINOCCHIO: Recherchephase. Regie-Tagebuch von Simon Meusburger
tag 1
ich habe begonnen, unser neues stück zusammen mit einem neuronalen netzwerk namens gpt-2 zu schreiben. teile des stücks werden also erstmals von einer maschine geschrieben. ein merkwürdiges gefühl. schon nach den ersten stunden, stellen sich klassische fragen ein. was unterscheidet den kreativen menschen von einem programm? und natürlich: was macht den menschen wirklich aus? kann mir die maschine am ende eine antwort liefern? ich mache mich auf die reise, ohne den ausgang zu kennen.
tag 6
seit tagen schreibe ich unser neues stück zusammen mit dem neuronalen netzwerk namens gpt-2. heute entstand ein monolog, der zu gleichen teilen aus fragmenten aus collodis pinocchio, eigenen texten und texten, die direkt aus der maschine stammen, besteht. wird man erkennen, was vom menschen und was von der maschine stammt? alan turing hat 1950 bereits den nach ihm benannten turingtest definiert: wenn in einem dialog zwischen mensch und maschine die maschine nicht mehr als solche erkannt wird, gilt dies als beweis für ihre ebenbürtige intelligenz.
tag 8
der weg zu diesem stück ist steinig. stufe für stufe, satz für satz arbeite ich mich zusammen mit einem künstlich-intelligenten textgenerator voran zu einem ziel, das ich nicht kenne. heute habe ich teile der ersten szenen erstmals jemandem vorgelesen. die teile, die vom neuronalen netzwerk gpt-2 verfasst wurden, riefen die emotionalsten reaktionen hervor und waren nicht vom menschlichen text zu unterscheiden. der weg scheint zu stimmen. es wird von tag zu tag spannender.
tag 13
aiva steht für artificial intelligence virtual artist. es ist ein deep-learning kompositionsprogramm. ein komponist, aber kein menschlicher. für #projektpinocchio wird aiva die gesamte musik beisteuern. die algorithmen von aiva lernen selbständig, indem sie werke von beethoven, bach, mozart und vielen mehr analysieren und anschließend selbst musik produzieren. die arbeit an diesem projekt wirft eine vielzahl existentieller fragen auf. die erfindung der künstlichen intelligenz stellt die menschheit vor eine große prüfung: werden wir uns im spiegel dieser schöpfung endlich wieder unseres menschseins bewusst? versuchen wir verzweifelt, die besseren maschinen zu sein? lernen wir gar etwas von der neuen schöpfung? trotz aller skepsis blicke ich sehr hoffnungsvoll in eine zukunft mit künstlicher intelligenz. schließlich hat sich die menschheit ausschließlich durch ihre natürliche dummheit in unsere heutige, wenig hoffnungsvolle lage manövriert. keine künstliche intelligenz würde wohl so selbstzerstörerisch handeln wie der mensch selbst.
es mag befremdlich sein, wenn eine maschine musik komponiert, die in mir gefühle hervorruft, und noch versteht die maschine ja nicht, was sie tut, sie tut es ja nicht bewusst. ich stelle mir aber die frage, was der nächste schritt sein wird und wann es soweit sein wird. wann und ob eine maschine sich bewusst sein kann, was sie tut. bewusstsein scheint der schlüssel zu sein für mensch und maschine.
tag 31
ich habe mich viele wochen ganz in die welt der künstlichen intelligenz fallen lassen. der erste text ist nun fertig. ich setze mich ans klavier und spiele einfach nur menschliche musik. viele eindrücke müssen nun erst verdaut werden. die reise geht nächste woche weiter, wenn wir zu proben beginnen. ich freue mich schon sehr auf die auseinandersetzung mit und fortsetzung des texts von mir und gpt-2.
tag 34
die proben haben begonnen. es ist immer etwas ganz besonderes für mich, wenn ein text zum ersten mal zum leben erwacht. dieses mal hat das aber eine ganz besondere bedeutung, da dieser text zu über 50 prozent von einer künstlichen intelligenz geschrieben wurde. gpt-2 hat gute arbeit geleistet. nach den ersten zwei probentagen habe ich den eindruck, dass es der lebendigkeit der sprache keinen abbruch tut, dass eine maschine den text verfasst hat. sicher, als mensch hätte ich einiges anders gemacht an dem stück. aber besser? oder kreativer? menschlicher? jedenfalls ist es genauso einzigartig, wie ein von menschenhand gemachtes werk. spannende wochen liegen vor uns…
tag 35
der erste probentag mit dem original puppenkörper. unser kleiner roboter lernt nun sprechen, gehen und spielen. bei den proben vergesse ich immer mehr, dass unser text auch von einer maschine geschrieben wurde. es spielt für mich auch immer weniger eine rolle. ich glaube, die wirkliche frage für uns menschen sollte nicht sein, was maschinen heute oder morgen besser können, oder ob und wie sie irgendwann bewusstsein erlangen können. vielmehr stelle ich mir die frage, wie es mit meinem eigenen bewusstsein bestellt ist. und im spiegel mit dem künstlichen ebenbild unserer selbst, erscheint diese frage umso dringlicher.
tag 46
wer bin ich? fragte sich unsere kleine kreatur heute zum ersten mal vor publikum. bei unserem eröffnungsabend zeigten wir unter anderem eine szene von projekt pinocchio, die fast vollkommen aus der maschinellen feder von gpt-2 stammt. die reaktionen waren super, man konnte das staunen spüren, als wir danach erklärten, das eben gesehene stammt von einer maschine.
Simon Meusburger
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