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Bühnenjubiläum: 10 Jahre „F.Zawrel“

2012-2022

Erinnerungen von Simon Meusburger zur Entstehung von „F.Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“

 

Es war einmal…

…vor zehn Jahren. Unser kleines Schubert Theater hat die turbulenten Gründungsjahre überstanden, wir haben mit dem Puppentheater die Form gefunden, die zukünftig unser Profil und unser Gesicht sein soll. Am Spielplan stehen die ersten Inszenierungen in dem für uns noch so neuen Genre: „Schlag sie tot“ ist unsere allererste Puppenproduktion, eine bitterböse, an Kreislers Lieder angelehnte schwarze Komödie über den Wiener Pensionisten Herrn Berni. „Der Herr Karl“ ist unsere Puppentheaterversion des Qualtinger-Klassikers, „Freaks“eine schräge Stummfilmadaption und „Becoming Peter Pan – An Epilogue to Michael Jackson“ kombiniert die Biografie des verstorbenen King of Pop mit Elementen aus dem Märchen Peter Pan.

Das nächste Projekt, das ich wieder gemeinsam mit dem Puppenkünstler und damaligen Co-Direktor Nikolaus Habjan realisieren möchte, ist eine Adaption von Frankenstein. Dafür haben wir eine Projektförderung der Stadt Wien bekommen. Für uns zu diesem Zeitpunkt ein großer Luxus. Der Weg, das Figurentheater für Erwachsene als eigene Theaterform mit eigenem Haus in Wien zu etablieren, hat gerade erst begonnen.

Eines Tages ruft mich Nikolaus an und berichtet mir ganz aufgeregt von einem Artikel über einen gewissen Dr. Heinrich Gross, „dem Frankenstein vom Spielgelgrund“. Er führt zu einem Fall aus dem dritten Reich, der für uns ebenso neu wie unfassbar ist. Das sollte unser Stoff sein, meinte Nikolaus. Ich bin zuerst skeptisch: Einem klassischen „Nazi-Monster“ möchte ich keine Bühne bieten. Bald darauf dann der nächste Anruf. Irgendetwas in Nikis Stimme ist diesmal ganz anders, das ist weitaus mehr als nur euphorische Aufgeregtheit. Es ist, im Nachhinein betrachtet, die Gewissheit, etwas vollkommen Richtiges, Wahrhaftiges gefunden zu haben.

Er berichtet mir von einem gewissen Herrn Friedrich Zawrel, einem Überlebenden des Spiegelgrundes, einer der größten NS-Euthanasiekliniken in Wien. Zawrel sei der Mann, der den Fall Gross schlussendlich doch noch ins Rollen brachte. Über diesen Helden sollten wir unser Stück machen, nicht über Frankenstein. Nun bin auch ich gänzlich überzeugt.

Ich erinnere mich noch gut an meine erste Begegnung mit Friedrich. Niki hatte schon ein oder zwei Gespräche mit ihm geführt und beim dritten Gespräch bin ich zum ersten Mal mit dabei. Friedrich ist gerade in ein Altenheim umgezogen. Sein Zimmer ist voll mit Büchern und Mappen und Fotos, alles sehr ordentlich in Regale geschlichtet. Ich bin sehr aufgeregt und habe ehrlich gesagt Angst, was mich erwartet. Ich weiß ja schon, dass wir gleich eine zutiefst grausame und traumatische Geschichte zu hören bekommen. Friedrich scheint meine Angst zu spüren, denn er beginnt seine Erzählung mit einer Erinnerung, die beseelt ist von seinem unvergleichlichen Humor.

Er erzählt uns, wie er kurz vor Kriegsende mit dem Schiff nach Regensburg transportiert wurde und wie er dort in Gefangenschaft die Befreiung durch die Alliierten erlebte. Da habe er zum ersten mal einen Schwarzafrikaner gesehen und war zutiefst beeindruckt von seiner schwarzen Hautfarbe. Mit blumigen Bildern und unglaublich humorvoll schildert uns Friedrich, wie er, der er bis dahin keine Schulbildung genossen hatte, auf diese Begegnung reagiert hat. Er erzählt uns von dem ersten Kakao und Krapfen, die er und die Mitgefangenen von den Befreiern bekommen hatten. Dass man sich damals die Mühe gemacht habe diese fein säuberlich in Papier einzupacken, rührt Friedrich noch immer. Und wir sind alle zu Tränen gerührt, als er uns erzählt, wie er diesen ersten Krapfen und den Kakao nach dem Krieg in kleinen Schlucken und Bissen unter Freudentränen genossen hat. Er erzählt uns weiter von seiner Angst, die er beim ersten Anblick des schwarzafrikanischen Offiziers hatte, weil dieser so komisch die Zähne gefletscht hat. Er macht seine Mundbewegungen nach und wir lachen. Bis er schließlich feststellt, dass dieser einen Kaugummi kaut. Er hatte einfach noch nie einen Kaugummi gesehen. Wieder ein Lacher. Jahrzehnte später, so Friedrich weiter, erzählt er diese Geschichte immer bei seinen Vorträgen als Zeitzeuge in den Schulen. Die Kaugummi-Geschichte kommt immer gut an bei den Schülern, erzählt er mit seinem typischen verschmitzten Lächeln. Eines Tages kommt bei einem seiner Vorträge ein Schüler schwarzafrikanischer Herkunft auf ihn zu und sagt zu dem kleinen, alten Mann: „Vielen Dank Herr Zawrel, sie sind einer der wenigen Leute, die Positives erzählen über Menschen meiner Hautfarbe“ Er gibt ihm ein kleines Geschenk: Einen Kaugummi. Friedrich holt eine kleine Schachtel und zeigt uns seinen Schatz! Den Kaugummi bewahrt er in der Schachtel des Ehrenkreuzes der Stadt Wien auf, er ist ihm viel mehr wert als jede Auszeichnung! Ich bin voller Tränen und Friedrich lächelt. „Warum weints ihr denn, die schlimmen Sachen hab ich euch ja no gar nicht erzählt“.

Ein paar Tage später habe ich die etwas unangenehme Aufgabe, die KuratorInnen der Stadt Wien zu informieren, dass wir die bereits zugesagte Stücksubvention für ein ganz anderes Projekt als Frankenstein verwenden möchten. Im Cafe Heumarkt findet die Besprechung statt, ich bin etwas nervös und doch siegessicher. Ich erzähle von meinen ersten Begegnungen mit Friedrich und natürlich gebe ich auch die Kaugummigeschichte zum Besten. Zwei KuratorInnen haben Tränen in den Augen, die Umwidmung ist kein Problem.

Wir führen noch viele Interviews mit Friedrich und am Ende haben wir 30 oder 40 Stunden Ton- und Videomaterial, dazu Aufzeichnungen, die uns Friedrich zur Verfügung stellt, Briefe von SchülerInnen, die in seinen Vorträgen waren und vieles mehr. Mir kommt die ehrenvolle Aufgabe zu, daraus eine erste Textfassung zu erstellen. Umgeben von Audiofiles, Büchern und Dokumenten schreibe ich drei Tage lang fast ohne mein Sofa zu verlassen. Zusammen mit Nikolaus und dem besten Dramaturgen, Friedrich Zawrel selbst, entsteht das Buch zu „F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig“. Wir sind unendlich erleichtert, dass Friedrich mit der Fassung zufrieden ist. Von Anfang an war unser Ziel, dass er selbst überzeugt sein sollte, was auf die Bühne gebracht werden soll und was nicht. Es ist eine merkwürdige intensive Arbeit, die dennoch leicht von der Hand geht, weil Friedrich selbst ein begnadeter Erzähler ist.

Die Proben beginnen und damit wird die Arbeit immer emotionaler und intensiver. Erstens, weil Nikolaus mit seinen Puppen vom ersten Probentag an so unglaublich real und intensiv spielt, und zweitens, weil uns allen immer bewusst ist, dass alles, was wir hier auf der Bühne nachstellen, wirklich passiert ist. Alle Szenen, die Friedrich beim Erzählen zeigen, proben sich wie von selbst. Nikolaus ist virtuos und da er selbst mit mir am Buch gearbeitet und Friedrich selbst so oft interviewt hat, braucht es quasi keine Rollenarbeit mehr. Die Szenen, die Friedrich als Kind am Spiegelgrund zeigen, sind aber für alle und insbesondere für Nikolaus eine Herausforderung, und eigentlich wollen wir diesen realen Horror gar nicht proben. Wir finden immer wieder Ausreden, genau diese Sequenz zu springen. Irgendwann müssen wir uns aber aus Theatersicht auch diesen Szenen stellen. Zu wissen, dass eine echtes Kind, und mit ihm Tausende andere, diese Qualen erlebt hat, ist unerträglich. Alpträume begleiten uns nach den Proben im Schlaf, wir sehen wie intensiv unser Gehirn versucht, das verdichtet Gehörte und szenisch Geprobte weiter zu verarbeiten. Wir wägen ab, was wir dem Publikum zeigen können und was nicht, damit die Leute nicht vor der Hälfte des Stücks schon gehen wollen, weil es einfach unerträglich ist. Manchmal kommt auch Friedrich selbst zu den Proben, und immer, wenn das der Fall ist, findet Niki eine Ausrede, warum wir gerade nur eine Erzählsequenz und nicht die Kinderszenen proben. Die Premiere rückt näher und damit auch der Tag, an dem Friedrich das ganze Stück zum ersten Mal selbst sieht. Diesmal können wir nichts aussparen, er muss schließlich sein OK geben, dass diese Version seiner Geschichte so über die Bühne gehen soll. Zum ersten Mal in unsrer jahrelangen Zusammenarbeit erlebe ich Nikolaus nervös. Und wieder ist es Friedrich, der es uns leichter macht und uns die Angst nimmt. Als ihm Niki seine Bedenken äußerst, weil wir ihm nun seine Traumata wieder vor Augen führen müssen, meint Friedrich entwaffnend: „So schlimm ist das nicht, ich weiß ja, dass ich’s überlebt hab!“

Diese Probe, so wie die vielen Vorstellungen in Anwesenheit von Friedrich, bleibt für immer unvergessen. Am Ende sind wir alle wieder verheult. Friedrich ist zufrieden, aber der Schluss gefällt ihm gar nicht. Wir waren uns sehr unsicher, wie wir das Stück aufhören lassen sollten und haben mit einem fiktiven Dialog von Gross und Zawrel geliebäugelt oder mit einem viel zu kitschigen Charlie-Chaplin-Zitat. Friedrich löste das Problem für uns. Er erzählte uns, wie er seine Vorträge immer enden ließ, und das war perfekt.

Als die Premiere von „F. Zawrel – erbbiologisch und sozial minderwertig“ im März 2012 im Schubert Theater stattfindet, denken wir daran, das Stück zumindest acht Mal zu spielen. So viele Vorstellungen sind finanziert. Wir sind zutiefst zufrieden mit unserer Arbeit und was noch wichtiger ist: Friedrich ist mit dieser Puppentheaterversion seines Lebens zufrieden. Es scheint uns kaum vorstellbar, dass sich viele Menschen für dieses historisch-dokumentarische Puppentheater interessieren würden, aber das kümmert uns nicht. Jetzt wollen wir erst einmal sehen, wie die ersten Menschen auf das Stück reagieren.

Was dann passiert, überrascht uns wirklich. Aus acht Vorstellungen werden über vierhundert. Die letzten zehn Jahre zeigen wir die Produktion im ganzen deutschsprachigen Raum in großen und kleineren Theatern immer und immer wieder. Und jedes einzelne Mal reagieren die Menschen mit stehenden Ovationen auf die Performance von Nikolaus und die Geschichte von Friedrich Zawrel, die viel mehr ist als die Geschichte eines Überlebenden des dritten Reiches. Es ist eine Geschichte über Menschlichkeit und Vergebung und es ist auch die Geschichte des Kampfs eines Mannes gegen ein unmenschliches System und gegen faschistische Ideen, die leider nicht nach dem Ende des Nationalsozialismus verschwunden sind, sondern in den dunklen Winkeln und Ecken unserer Demokratie weiterleben. Immer noch ist diese Geschichte in ihrer Vielschichtigkeit dringlich und wichtig. Und immer noch müssen wir sie erzählen.

So vieles passiert in diesen letzten zehn Jahren. Friedrich kann noch mit uns erleben, wie sein Stück mit dem Nestroypreis ausgezeichnet wird. Er ist mit dabei, als wir die Inszenierung für große Bühnen am Schauspielhaus Graz und im Akademietheater in Wien adaptierten. Besonders freut ihn, wenn viele SchülerInnen bei den Vorstellungen sind und mit ihm danach lange diskutieren. Und wir dürfen mit Friedrich Zeugen werden, wie sein Stück und seine Geschichte ein kleines bisschen die österreichische Justizgeschichte beeinflusst. Nach einer Galavorstellung im Justizministerium mit dem damaligen Justizminister Helmut Brandstätter, ist dieser sichtlich schockiert und überrascht von dem historischen Justizskandal, der sich ja bis in die 2000er Jahre zieht. Das Justizministerium sponsert schließlich die DVD unseres Stückes, so dass diese Geschichte für immer archiviert ist. Friedrich Zawrel wird das goldene Ehrenkreuz für Verdienste um die Republik Österreich verliehen.

Ich freue mich sehr, dass wir nach zehn Jahren „F.Zawrel“ im März 2022 wieder einmal im Schubert Theater zeigen können und uns daran erinnern, wie alles begann. Für das Schubert Theater bedeutet das Stück bis heute einen ersten Wendepunkt – dahingehend, dass wir als Puppentheater für Erwachsene ernst genommen werden. Als Künstler bin ich sehr dankbar, dass uns Friedrich damals vertrauensvoll sein Leben in unsere Hände gelegt hat, wie er das selbst sehr theatral formulierte, und uns eine wohl einzigartige intensive Theaterarbeit ermöglichte. Als Mensch bin ich sehr dankbar für die zahlreichen Begegnungen von Friedrich mit Jugendlichen, die nach dem Stück stattfanden. In einem von hunderten Briefen, die Friedrich nach seinen Vorträgen und auch nach dem Stück immer wieder geschickt bekam, berichtet ein Jugendlicher, wie sehr ihn Friedrichs Geschichte ermutigte und inspirierte. Er müsse gerade mit der Scheidung seiner Eltern umgehen, aber zu sehen, wie Friedrich sein Leben trotz seines Schicksals gemeistert hat, gebe ihm Hoffnung. Zu erleben, wie seine Geschichte eine junge Generation inspiriert und zum Nachdenken anregt, ist eins der erfüllendsten Erlebnisse meines künstlerischen Lebens.

2015 starb Friedrich Zawrel. Bei seinem Begräbnis waren nicht nur einige gerade amtierende politische VertreterInnen und JournalistInnen, sondern viele SchülerInnen, die er mit seiner Geschichte berührt hatte. Das hätte ihn sicher gefreut.

Seit Friedrichs Tod stelle ich mir immer wieder die Frage: Was hätte Friedrich wohl zu diesem oder jenem gesagt. Er war ja immer ein äußerst politisch interessierter Mensch und hat sich über einige politische Vertreter sehr ärgern können, weil er nie verstand, wie man die Demokratie so mit Füßen treten kann. Wenn man Friedrichs Geschichte und sein Leid durch die autoritären politischen Haltungen und Systeme bedenkt, ist das nur zu verständlich. Heute frage ich mich wieder: Was hätte Friedrich zu den politischen Ereignissen der letzten Zeit wohl gesagt. Ich kann mir vorstellen, vieles hätte ihn traurig gestimmt. Friedrich war nämlich selten wirklich wütend. „Ein Handschlag ist besser als ein Faustschlag“ pflegte er zu sagen, und aus seinem Mund klang das auch nicht wie eine Binsenweisheit.

Als wir damals bei eben jener Probe das Stückende besprachen, schrieb uns Friedrich quasi das Stück zu Ende. „Weißt du, Niki, du bist der Theaterfachmann“, sagte er, „aber ich beende meine Vorträge immer mit einem Gedicht.“

„Was geschieht“ von Erich Fried
Es ist geschehen
und es geschieht nach wie vor
und wird weiter geschehen
wenn nichts dagegen geschieht

Die Unschuldigen wissen von nichts
weil sie zu unschuldig sind
die Schuldigen wissen von nichts
weil sie zu schuldig sind

Die Armen merken es nicht
weil sie zu arm sind
die Reichen merken es nicht
weil sie zu reich sind

Die Dummen zucken die Achseln
weil sie zu dumm sind
und die Klugen zucken die Achseln
weil sie zu klug sind

Die Jungen kümmert es nicht
weil sie zu jung sind
und die Alten kümmert es nicht
weil sie zu alt sind

Darum geschieht nichts dagegen
und darum ist es geschehen
und geschieht nach wie vor
und wird weiter geschehen

wenn nichts dagegen geschieht

Friedrich Zawrel endete immer mit Hoffnung. So wie unser Stück auch mit der Hoffnung endet, dass jeder Mensch immer und jederzeit den Weg zum Besseren einschlagen kann. Danke, Friedrich, dass du diese Hoffnung mit uns geteilt hast.

EMPFEHLT UNS WEITER!

schuberttheater

Das Puppentheater für Erwachsene

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