News

Beobachtung verändert die Welt

Publikumsgespräch nach „May.be – Was sein darf“.
„Wir müssen reden“: Niederschrift des Publikumsgesprächs zwischen Quantenphysiker und Philosoph Dr. Dr. Lukas Mairhofer, Regisseur Simon Meusburger und Dramaturgin Jana Schulz am 02.11.20.

Lukas Mairhofer
Jana Schulz
Simon Meusburger

 

 

 

 

 

Jana Schulz: Herzlich willkommen, mein Name ist Jana Schulz, ich bin Dramaturgin und moderiere die Publikumsgespräche „Wir müssen reden“. Im Anschluss an ausgewählte Vorstellungen laden wir Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft zu einem offenen Gespräch über im Stück behandelte Themen ein und diskutieren gemeinsam mit der Regie und dem Publikum.
Wir freuen uns sehr, heute Lukas Mairhofer begrüßen zu dürfen, Experimentalphysiker und Wissenschaftsphilosoph. Lukas, Du hast unter anderem über Brecht und Quantenphysik promoviert, arbeitest im Labor, forschst direkt an der Quantenmechanik – was für die meisten von uns unvorstellbar scheint – und beschäftigst dich gleichzeitig mit Philosophie und Theater.
Ich begrüße auch Simon Meusburger, Regisseur, Autor, Komponist und Lichtdesigner dieser Produktion. Wir laden auch Sie, liebes Publikum, herzlich ein, Fragen zu stellen, Anregungen zu liefern, Antworten zu geben.

Lukas Mairhofer: Ich möchte gleich zu Beginn was zur im Stück angesprochenen Idee von David Bohm sagen, der Idee, dass Kunst und Wissenschaft wieder zusammenkommen werden. Ich denke, dass diese Szene mit den vielen verschiedenen Möglichkeiten, wie die Handlung sich entwickeln kann, ein großartiges Beispiel dafür ist. Diese Interpretation der Quantenmechanik hat ja Everett III entwickelt, die Many-Worlds-Interpretation, der zufolge an jedem Punkt einer Messung das Universum sich in viele Universen spaltet, in alle Möglichkeiten, die enthalten sind in der Welt in dem Moment, in dem wir eine Messung durchführen.
Es gibt diese Geschichte von Jorge Luis Borges über einen Spion, der in eine Stadt kommt und versucht, eine Nachricht nach draußen zu übermitteln, und der einzige Weg dafür ist, jemanden zu ermorden. Er begegnet dieser Person, die er ermorden muss, und wird von ihr in ein Gespräch darüber verstrickt, dass an jedem Punkt, an dem wir eine Entscheidung fällen, die Pfade sich teilen und die Zeit aus einem Netz solcher gespaltener Pfade besteht. Die Geschichte heißt „Der Garten der Pfade, die sich verzweigen“.
Und wenn man nun in der Werkausgabe von Everett nachschaut, wann seine Theorie zum ersten mal auftaucht, findet man darin vorangestellt das Zitat aus dieser Geschichte von Borges. Das deutet also stark darauf hin, das Borges diese Geschichte gekannt hat und von ihr inspiriert war.
Ich denke, wir sollten uns nicht täuschen lassen. Wissenschaft und Kunst sind gar nicht so weit auseinander, wie wir uns alle immer einreden wollen.

Jana Schulz: Was konkret hat denn Theater mit Quantenphysik zu tun?

Lukas Mairhofer: Ich erzähle da immer die Geschichte von meiner Quantenmechanik-Prüfung. Das war eine vierstündige mündliche Prüfung. Danach bin ich nach Hause gegangen, habe eine Flasche Rotwein geöffnet – schade, dass ich jetzt hier kein Glas Rotwein auf der Bühne trinken darf – ich habe also eine Flasche Rotwein geöffnet und begonnen, Brecht zu lesen. Nach der halben Flasche konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass Brecht hier von der Quantenphysik spricht. Am nächsten Tag habe ich recherchiert und gemerkt, dass er tatsächlich davon spricht. Brecht zitiert ganz explizit die Quantenphysik, wenn er argumentieren will, dass das Publikum sich nicht passiv zurücklehnen und einfach rezipieren soll, sondern dass es aktiv teilnehmen muss am Stück, und er versucht, seine Stücke so zu schreiben, dass das Publikum gezwungen ist, mitzudenken und zu interpretieren. Oft sind in der Handlung zwei mögliche Enden angelegt, die teilweise auch beide gespielt werden; in anderen Stücken gibt‘s gar kein Publikum, weil er es auf die Bühne holt, etwa in Form von einem riesigen Chor, sodass das Publikum wirklich Teil der Handlung wird. Was wir heute gesehen haben, mit den möglichen Handlungssträngen, das kommt nahe an Brechts Denken ran.

Jana Schulz: Das bringt uns direkt zu Szene zwei von „May.be“. Ich möchte gerne verraten, dass, obwohl es zahlreiche Wahlmöglichkeiten gibt, heute exakt die gleichen Entscheidungen getroffen wurden vom Publikum wie gestern. 

Simon Meusburger: Wir waren ja sehr neugierig. Die Szene war eine große Herausforderung, denn es ist schwierig, zwanzig Geschichten zu proben, während man weiß, es kommt nur eine vor bei der Aufführung. Und alle zwanzig auf einem unterhaltenden, spannenden Niveau zu halten, sodass jede Geschichte, die vorkommen könnte, nicht fad ist. Wir haben uns überlegt, wie wir das so einbauen können, dass mal die eine, mal die andere Entscheidung vorkommt. Beim Proben sitzen ja dann nur ich, Technik, Regiassistenz und manchmal die Dramaturgie dabei und wir sind nur wenige und es ist schwierig, ein Publikum zu simulieren, und wir waren sehr gespannt, was jetzt tatsächlich passiert. Wir haben uns schon gedacht, dass manche Entscheidungen öfter vorkommen. Mal sehen, wie es weitergeht, jetzt müssen wir erstmal das Ende des Lockdowns abwarten.
Vielleicht nochmal zu dieser Multiversumsgeschichte. Ich als Laie bin immer sehr fasziniert, wenn ich in irgendwelche Artikel reinlese, für Kunst und Regie ist immer viel Inspiration dabei. Lukas, ich habe dich gesehen in der Dokumentation „Kreuz und quer – Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“, und das war eine Inspiration für diese Szene.
Und es ist faszinierend, denn wenn wir annehmen, dass es unendlich viele Parallelwelten gibt, sind unsere Handlungen ja sozusagen egal, denn wenn eh alles in unendlich vielen Paralleluniversen gleichzeitig passiert, dann ist schon irgendwo das moralisch Richtige dabei.
Dann bin ich auf diesen Handschlag des Universums von Cramer gestoßen, wo wir die Verantwortung wieder zurückbekommen, was gut ist. Denn: Dieses Universum, das wir wahrnehmen, das liegt dann schon in unserer Hand. Es ist nicht willkürlich, was wir für Entscheidungen treffen.
Bei der Bühnenumsetzung haben wir mit den Illustrationen von Nazanin Mehraein versucht, auch alles, was nicht passiert, darzustellen. Man sieht dann: Dieser eine Weg, für den haben wir uns entschieden, aber das andere passiert irgendwie auch.

Jana Schulz: Wie sehr können wir das denn für bare Münze nehmen? Wie konkret kann sich Quantenphysik in unserem Leben äußern?

Lukas Mairhofer: Man muss an dieser Stelle zwei Warnungen aussprechen. Die eine ist, dass die „Many-Worlds-Interpretation“ ja nur eine mögliche Interpretation der Quantenmechanik ist. Die Quantenmechanik ist einerseits die erfolgreichste physikalische Theorie aller Zeiten, die experimentell am Besten überprüfte Theorie. Es gibt Schätzungen, dass ein Drittel des BIPs der USA auf der Quantenmechanik basieren. Hätte sich die Quantenmechanik auf einmal erledigt, hätten wir einen signifikant schlimmeren Wirtschaftseinbruch als durch die Coronakrise. Wir brauchen sie, um die Prozessoren für unsere Computer zu bauen. Wir brauchen sie für Computertomographie, für Magnetresonanztomographie, für die GPS-Navigation, für die Handyantennen – für ganz viele Dinge, die wir in unserem Leben völlig selbstverständlich verwenden. Gleichzeitig tobt seit hundert Jahren ein erbitterter Streit darüber, wie diese Theorie überhaupt zu verstehen ist, was das für einen Sinn hat, was wir da an Formeln hinschreiben. Die Many-Worlds-Interpretation ist nur eine von mehreren Interpretationen. David Bohm ist heute ja auch vorgekommen, der hat zum Beispiel einen ganz anderen Ansatz.
Das ist die eine Warnung. Wir können aus der Quantenmechanik nicht eine Welterklärung herausziehen, denn es ist total umstritten, was das überhaupt bedeuten soll.
Die andere Warnung ist: Wenn wir die Many-Worlds-Interpretation übernehmen, leben wir ja doch immer in dem Universum, in dem wir eben leben, wenn wir eine Entscheidung gefällt haben. Dass es da dann vielleicht noch ein Universum gibt, wo alles glatt geht, das hilft uns ja dann gar nichts. Wir sind in unserer Welt. Es gibt eine wunderschöne Serie, „Rick and Morty“, da schaffen es die Protagonisten, zwischen den verschiedenen möglichen Welten hin und her zu wechseln, aber das ist in dieser Interpretation eigentlich schon explizit ausgeschlossen, also, das geht nicht, das kriegen wir nicht hin.
Das sind die zwei Warnungen.
Ich denke, was wir wirklich mitnehmen sollten aus der Quantenmechanik, ist, dass Beobachtung die Welt verändert. Dass Sie als Publikum genauso daran beteiligt sind, dass hier auf der Bühne etwas passiert, und auch daran, was hier auf der Bühne passiert. Es gibt keine unschuldige und unbeteiligte Beobachtung. Beobachtung und Nicht-Beobachtung – also die Entscheidung, etwas nicht wahrzunehmen, zu ignorieren – ist immer schon daran beteiligt, was in der Welt ist.

Simon Meusburger: Aus der Theaterperspektive ist das ein total spannender Punkt. Wir spielen ja, wenn wir eine Produktion haben, immer die gleiche Aufführung. Trotzdem ist jede Vorstellung anders. Auch wenn die gleichen Darstellerinnen und Darsteller auf der Bühne sind. Man fragt sich dann zum Beispiel: Warum war diese Vorstellung heute zu fad? Und war gestern so toll und lustig? Wäre das denn schon Quantenphysik? Ich meine, es kann natürlich auch sein, dass der Schauspieler einfach einen schlechten Tag hat, ist schwer zu messen.

Lukas Mairhofer: Karen Barad, eine queerfeministische Wissenschaftstheoretikerin und Physikerin, hat mal in einem Vortrag gesagt, dass es, wenn sie mit ihrer pubertierenden Tochter einen Clash hat und sie sich gegenseitig anbrüllen, total hilfreich für sie ist, zu berücksichtigen, dass das jetzt nicht nur ihre Tochter ist, sondern sie beide daran beteiligt sind. Eine soziale Interaktion ist immer von allen Partnerinnen und Partnern abhängig.

Jana Schulz: Unsere Darstellerin und Darsteller, Nazanin Mehraein und André Reitter, sind gerade auch im Publikum. Ihr könnt am Besten erzählen, wie sehr einen das Publikum beeinflusst, oder? Premiere war erst gestern. Es wurde vielfach auch gesagt, dass die Stimmung in den Vorstellungen zurzeit oft komisch ist, weil man die Reaktionen des Publikums wegen den Masken nicht richtig mitkriegt. Dadurch sind die Darsteller und Darstellerinnen wiederum weniger gelöst und es bleibt etwas verhalten.

André Reitter: Ganz klar. Du machst einen Witz – und wenn jemand lacht, machst du den nächsten Witz überzeugter. Letztens hatten wir eine tolle Vorführung, das Publikum hat viel gelacht, und beim anderen Mal wieder gar nicht…. Ich weiß auch nicht, ob ich das quantenphysisch nennen würde, oder ob‘s daran liegt, dass ich mal nen schlechten Tag hab.

Jana Schulz: Wir haben vor dem Gespräch noch drüber geredet, was der Experte Lukas wohl zu unserer Auslegung der wissenschaftlichen Theorie in Szene zwei sagt. Liegen wir richtig, wenn wir die so deuten, oder gibt es da ein Missverständnis?

Lukas Mairhofer: Nun, hier wird diese Theorie herangezogen und damit wird gearbeitet. Es gibt ja eben keine richtige Interpretation. Das ist total unentschieden, insofern find ich es gut. Gut fand ich auch das Regieelement der Doppelung: Der Darsteller sagt, „Die Mutter findet das gut“, dann sagt die Figur nochmal „ich finde das gut“. Das ist eine Methode, die klar macht: Hier wird gespielt. Etwas sehr Brechtsches. Das hat Brecht auch auf die Quantenmechanik bezogen. Er hat gesagt: Wir wollen, dass dem Publikum klar wird, dass wir hier nur spielen. Wir wollen, dass das Publikum das weiß. Dadurch erzeugen wir ein Publikum, das sich dessen bewusst ist, dass es hier die Beobachter- und Beobachterinrolle hat. Und dies ist eine ganz mächtige Rolle in der Quantenmechanik.

Simon Meusburger: Das ist besonders spannend, denn im Figurentheater arbeiten wir fast immer damit. Das ist ja ein wensentliches Element dabei: Wir haben ein Objekt oder eine Figur, hier fahre ich rein, bespiele es jetzt, lade das Publikum ein, da mizugehen. Mir war noch gar nicht so bewusst, dass das so viel mit Brecht zu tun hat.

Jana Schulz: Vielleicht ist das jetzt etwas vermessen, aber könnten wir noch einen Schritt zurückgehen – kannst du uns kurz Quantenmechanik erklären, Lukas?

Lukas Mairhofer: Ich kann‘s probieren. 

Jana Schulz: Ist Quantenmechanik und Quantenphysik das Gleiche?

Lukas Mairhofer: Quantenmechanik ist ein Teil der Quantenphysik. Quantenmechanik ist das, was sich circa bis 1927 entwickelt hat. Das ist der einfache Teil. Den kann ich versuchen, zu erklären. Dann wird‘s auch für mich schwierig. Vorweg: Ich bin Experimentalphysiker. Ganz viel meiner Arbeit war Handarbeit. Ich hab Vakuumkammern zusammengeschraubt. Da kriegt man richtig Muskeln…naja. Ich hab Laser justiert, solche Sachen. Wirklich eher Handwerk. Bisschen wie Lego spielen, wo der Papa oder die Mama mit der Kreditkarte kommt und sagt „Kauf dir, was du willst“. Ganz großartig!
Wenn wir über Quantenmechanik reden, müssen wir uns zuerst anschauen, was sie versucht hat, zu erklären. Was Quantenmechanik am Anfang lösen wollte, war das Problem, warum dieses Licht hier gelb und dieses dort blau ist – warum bestimmte Atome bestimmte Wellenlängen an Licht aussenden oder absorbieren. Wenn Sie mal eine Natriumdampflampe verwenden, merken Sie, die hat dieses wunderschöne, intensive Gelb – andere Atome haben Spektrallinien, die sind sehr grün, sehr blau. Die meisten Atome haben mehrere Spektrallinien. Die Physik hat also versucht, zu erklären, wie diese Spektrallinien zustande kommen. Dabei musste man irgendwann annehmen, dass Licht von den Atomen absorbiert wird, indem sich etwas im Atom ändert. Und zwar im Atom Elektronen zwischen verschiedenen Energieniniveaus wechseln. Quantenphysik hat sich wirklich aus einer sehr phänomenologischen Frage, etwas sehr Anschaulichem entwickelt – dem Versuch, Lichtspektren zu erklären. Dann ist es es sehr schnell sehr unanschaulich geworden, weil man sofort dazu übergegangen ist, zu beschreiben, was im Atom drinnen passiert. Und das können wir nicht mehr direkt beobachten.
Das eine große Problem ist, dass diese Vorgänge, die da im Atom passieren, nicht anschaulich sind. Wir sehen das Licht, aber was drin passiert, sehen wir nicht mehr. Anschaulichkeit war aber das Wahrheitskriterium in der klassischen Physik. In der klassischen Physik wollte man, das, was die Theorie erzählt, auch anschaulich haben. Das ist in der Quantenmechanik verloren gegangen.
Außerdem ist in der klassischen Physik bis dahin alles schön kontinuierlich verlaufen.
Es gibt einen Artikel von Werner Heisenberg, von 1927, der hat einen eigentümlichen Namen: „Über den anschaulichen Gehalt der quantenmechanischen Kinematik“. In diesem Artikel finden wir auf der ersten Seite ein Bild, eigentlich zwei Bilder.

Sogenannte Weg-Zeit-Diagramme. Auf der einen Achse ist der Ort eines Objekts, x, auf der anderen Achse ist die Zeit, t. Heisenberg zeichnet hier zweimal so ein Zeit-Ort-Diagramm. Einmal zeichnet er so eine schöne durchgängige Linie, eine Bahn, das, was wir aus der klassischen Physik kennen. Ein Ball springt dahin, und wir können den Ort des Balls zu jedem Zeitpunkt angeben.
Und dann zeichnet er daneben einen ganz eigenartigen Graphen, nämlich lauter Punkte.
Und er sagt: Links ist klassische Physik, rechts Quantenmechanik. Wir müssen nämlich hinschauen, um den Ort eines Objekts wahrnehmen zu können, und in diesem Hinschauen erzeugen wir erst, dass das Objekt an diesem Ort ist. Was zwischen zwei Punkten passiert, darüber sollten wir eigentlich nicht reden. Niemand gibt uns das Recht, hier zwischen den Punkten eine Kurve zu ziehen oder einen geraden Strich. Denn dazwischen hat das Objekt keinen Ort. Das heißt, in unserer Beobachtung erzeugen wir die Orte der Gegenstände.
Das, was Heisenberg hier einander gegenüberstellt, ist in Wirklichkeit nicht nur die klassische Physik und die Quantenmechanik, sondern auch die Philosophie von Kant, der sagt „Alle Vorgänge verlaufen kontinuierlich, sind streng kausal bestimmt, jede Ursache hat genau eine Wirkung, nämlich den nächsten Punkt hier auf der Kurve“ – und hier, auf der anderen Seite, eine sehr viel skeptischere Philosophie, zum Beispiel von Hume oder Locke, die sagen: Es gibt nichts, das uns berechtigt, einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Punkten herzustellen. Das heißt, die Quantenmechanik hat keine Kontinuität mehr. Und die Vorgänge sind nicht mehr streng kausal determiniert. Und das alles eigentlich, weil wir mit unserer Beobachtung das verändern, was wir beobachten.
Ich weiß, ich habe Ihnen noch gar nichts über die Quantenmechanik erklärt, aber vielleicht können wir somit ein wenig verorten, wo da die Probleme für unser Denken auftauchen.

Jana Schulz: Toll, das ist einfach wie ein nichtlineares, experimentelles Narrativ?

Lukas Mairhofer: Genau.

Jana Schulz: Was ist es denn genau, was uns so lechzen lässt nach dieser ersten Variante, der klassischen Kurve, dem Linearen? Ist es die Tradition? Oder gibt es da wissenschaftliche Erklärungen, die belegen – das menschliche Hirn kommt derzeit eben nur so weit?

Lukas Mairhofer: Ich würde sagen, es ist in Wirklichkeit die Tradition. Kant würde sagen, wir können nur so denken. Unsere Alltagserfahrung ist natürlich das: Der Ball macht diese schöne, durchgängige Kurve. Aber ich bin ein Bisschen vorsichtig geworden, zu sagen, wir können nur so denken. Ganz viele Leute würden behaupten, wir können nur in einer Ja-Nein-Logik denken. Da gibt‘s aber eine indigene Sprache, die Aymara-Sprache in Südamerika, die verwendet eine dreiwertige Logik. Damit kann man Sätze bilden, die aussagen „Vielleicht hat es gestern geregnet, dann war vielleicht die Straße nass“. Und das macht in der Sprache absolut Sinn. Und zu behaupten, wir können nur sagen, es hat geregnet oder es hat nicht geregnet, ist, glaube ich, ein Bisschen eurozentristisch.

Frage aus dem Publikum: Das mit den Wellen und Teilchen – im täglichen Leben verbinden wir sozusagen einzelne Ereignisse zu so einer Welle, oder? Die Dinge, die wir erleben und die uns passieren, sehen wir als eine Welle?

Lukas Mairhofer: Danke! Ich sage etwas zu Welle und Teilchen. In der Quantenmechanik beschreiben wir die vielen Möglichkeiten, die in einer Situation drinstecken, die vielen möglichen Abläufe des Wesens aus der Schachtel durch eine Wellenfunktion. Diese Wellenfunktion enthält alle Möglichkeiten, die in der Geschichte drinstecken. Alle diese Bilder, die wir hier gesehen haben, würden von der Wellenfunktion beschrieben werden. Und zwar in der Form, dass wirklich die Wellenfunktion sich auch mit der Zeit entwickelt. Am Anfang also vielleicht nur das Wesen in der Schachtel ist, im weiteren Verlauf enthält die Funktion dann „das könnte ein Mädchen sein, das könnte ein Junge sein“, dann als nächsten Schritt die Wahlmöglichkeit, die Geburstagsparty im Prater statt oder die Party findet zuhause statt und so weiter. Diese Wellenfunktion entwickelt sich schon so, wie wir es hier sehen, sie entwickelt sich kontinuierlich und auch streng kausal. Aber das Problem ist, wenn der Spieler und die Spielerin hier die Frage stellen – was passiert, welche der Möglichkeiten wird ausgewählt – dann wissen sie nicht, was das Publikum antworten wird. Die Wellenfunktion enthält also alle Möglichkeiten, aber welche dieser Möglichkeiten dann realisiert wird in der Fragestellung, das ist in der Wellenfunktion nicht enthalten, und es lässt sich auch nicht vorhersagen.
Das ist das große Problem der Quantenmechanik: Sie kann zwar perfekt beschreiben, wie sich die Möglichkeiten entwickeln, sie kann aber überhaupt keine Aussage darüber treffen, welche davon dann realisiert wird. Das können wir nicht beschreiben. Das können wir wirklich, wirklich nicht beschreiben. Das ist ein großes Loch in der Theorie. Und es ist klar geworden, dass wir die Theorie nicht so ergänzen können, dass wir da irgendwie eine vernünftige Beschreibung reinkriegen. Deshalb diese vielen Interpretationen, etwa die Many-Worlds-Interpretation – dass an jedem Punkt der Frage an das Publikum sich das Universum aufspaltet in weitere Universen. Das umgeht halt dieses Problem.
Das ist also die Welle, die beschreibt, was hier dazwischen passiert, sie beschreibt: Aus diesem Punkt kann unter Umständen als nächstes Ergebnis einer Messung dieser Punkt entstehen, oder dieser oder dieser Punkt. Wenn wir die Messung durchführen, messen wir aber ein Teilchen. Dann realisieren wir eine dieser Möglichkeiten und das passiert immer in Form eines Teilchens.
Und das ist dieser Welle-Teilchen-Dualismus. Wenn wir hier einen Doppelspalt haben, hier Wellen draufschicken, dann können sie durch diesen Spalt durchgehen oder durch diesen Spalt. Und wenn wir hinten einen Schirm hinstellen, dann sehen wir, dass die Wellen durch beide Spalte durchgegangen sind, weil wir hier ein Interferenzmuster sehen. Wenn wir aber vorher schon fragen, durch welchen Spalt geht die Welle geht, dann haben wir hier schon eine Messung und das Interferenzmuster verschwindet. Also, dieser Welle-Teilchen-Dualismus ist in Wirklichkeit das Verhältnis von den vielen Möglichkeiten, die in einer Situation enthalten sind, und dem Problem, dass nur eine dieser Möglichkeiten realisiert wird.

Simon Meusburger: Ich habe eine Frage. Weil die Menschheit irgendwie so sehr möchte, dass Dinge so traditionell beschrieben werden: Als Heisenberg das definiert hat, wurde er angegriffen? War das für die Wissenschaft schwer anzunehmen? Das würde auf Platons Höhlengleichnis hinweisen, auf das wir in der nächsten Szene eingehen. Platon beschreibt ja die eine Person, die versucht, auf die nächste Ebene zu schauen, dann zurückkehrt und den Menschen erklären will, was sie gesehen hat – und dann wird sie verstoßen. Die Menschen sagen aber: Nein, wir wollen lieber weiterhin das sehen, was wir kennen. War das bei Heisenberg auch so?

Lukas Mairhofer: Heisenberg hat für diesen Artikel den Nobelpreis bekommen. Aber ich denke, die Tatsache, dass es hundert Jahre später noch immer massive Diskussionen darüber gibt, wie das zu interpretieren ist, zeigt, dass es auf eine gewisse Art verstoßen wurde, oder dass es schwer fällt, diese Konsequenzen zu akzeptieren.

Frage aus dem Publikum: Das war jetzt der Bezug auf die zweite Szene. Aber wo war da der Bezug zur Quantenphysik bei den anderen Szenen? Ich selbst habe das dahingehend interpretiert: Wo liegt in diesen Geschichten, die scheinbar zufällig sind, meine eigene Verantwortung?

Simon Meusburger: Das ist eine gute mögliche Interpretation. Die anderen Szenen hatten nicht bewusst einen Bezug zur Quantenmechanik. Es ging da darum, Bilder, Geschichten, Anregungen zu geben, die im ersten Lockdown entstanden sind, eine Zeit, die zunächst ein Herunterfahren von allem bedeutet hat, und eine Möglichkeit, zu sagen: Wie kann man weiterdenken? Was gibt es da für Gedanken, die zugelassen sind, die vielleicht nicht zugelassen sind? Was für Dystopien und Utopien sind in weiterer Folge denkbar? So sind diese vier Szenen oder Bilder entstanden.

Lukas Mairhofer: Aber ich finde, alleine schon, dass Sie diese Frage stellen, hat diesen Beobachter- oder Beobachterinmoment. Sie fangen an, sich zu fragen, was fang ich damit an.

Sie erzeugen dann erst, dass diese Szenen einen Sinn für sich bekommen.

Frage aus dem Publikum: Kann man das Ganze auch ohne Quantenphysik verstehen? Ist es überhaupt künstlerisch notwendig, in diesen Schemata zu denken? Oder kann man nicht sagen – Phantasie, Bewusstsein, die Lust am Erzählen, was auch immer ist genauso gültig als Grundlage?

Simon Meusburger: Absolut. Das ist ein eher experimenteller Abend, ich wollte hier bewusst freier damit umgehen, was man mit Figuren und Objekten erzählen kann. So frei sollen natürlich auch die Reaktionen des Publikums sein. Ich habe nicht vorgehabt, einen speziellen Unterbau, der wissenschaftlich ist, für diese Szenen zu entwickeln.

Lukas Mairhofer: Ich hab ja schon den Brecht erwähnt und den Borges. Quantenmechanik entwickelt sich etwa zwischen 1905 und 1935. Sie bricht ganz massiv mit den Vorstellungen der klassischen Physik, aber auch mit den Vorstellungen der klassischen Philosophie. Es ist schon erstaunlich, dass in der gleichen Zeit in der Malerei ein riesiger Umbruch passiert. Weg vom klassischen Ölgemälde der Rennaissance, das den Anspruch hat, die Wirklichkeit „genau so, wie sie ist“, zu malen. Im 19. Jahrhunder kommt da irgendwann der Impressionismus auf, der betont: Wir malen nicht die Wirklichkeit wie sie ist, wir malen unsere Eindrücke, unsere Impressionen, da gibt es einen Künstler oder eine Künstlerin, die ganz massiv in diese Darstellung eingreift. Dann kommt der Kubismus, der das sowieso völlig zerfleddert und sagt: Da gibt‘s den Betrachter oder die Betrachterin des Bildes, die erzeugen aus ganz vielen Facetten erst den Eindruck. Soweit in der Malerei; im Theater haben wir da den Brecht, der mit dem klassischen Theater bricht.

Aber genauso in der Anthropologie. Die ersten Anthropologen sind daheim gesessen und haben die Artefakte aus den Kolonien zu sich kommen lassen. Und dann kommen sie drauf: Wir müssen hinausgehen, wir müssen Teil der Kulturen werden, die wir untersuchen, wir müssen teilnehmende Beobachtung betreiben.

Und es ist jetzt nicht so, dass die Quantenmechanik das allen diesen unterschiedlichen Gebieten erzählt hat, sondern da passiert ein Umbruch im Verhältnis zwischen Beobachter/Beobachterin und dem Beobachteten, der sich durch ganz viele Gebiete durchzieht!

Frage aus dem Publikum: Aber passiert nicht heutzutage nochmal ein Umbruch? Vielleicht auch durch Corona?Ich bin Krankenschwester. Wenn ich mir Künstliche Intelligenz anschaue, die medizinische Entscheidungen trifft – wo man nicht genau weiß, was in dieser Black Box passiert… ist das sowas? Und ist es nicht so fragwürdig, weil man letztendlich nicht weiß, wie diese Entscheidungen genau getroffen werden?

Lukas Mairhofer: Da entsteht sicher ein neues Subjekt, ein neues beobachtendes Subjekt. Ich bin kein KI-Experte. Diese Diskussion „Verstehen wir, das darin passiert oder nicht“ ist schwierig, weil mir die Leute, die diese KI programmieren, sagen, sie wissen sehr wohl, wie diese Entscheidungen zustande kommen, sie schreiben ja die Algorithmen.

Kommentar aus dem Publikum: Der Mensch ist ja eigentlich auch eine Black Box. Wir wissen teilweise ja gar nicht, was das Antibiotikum genau macht.

Jana Schulz: Bei KI habe ich auch den Eindruck, dass wir, je mehr wir uns damit beschäftigen, umso mehr auf unser Menschsein zurückgeworfen werden, die Maschinen halten uns den Spiegel vor. Doch um auf die vorherige Frage zurückzukommen, ob man die quantenphysikalische Erklärung für diesen Abend braucht: Es ist eher als Inspiration zu sehen. Wissenschaft inspiriert Kunst, und Kunst die Wissenschaft. Science-Fiction-Autoren sind immer wieder von der NASA vor Weltraummissionen konsultiert worden, weil sie sich mit gewissen Themen anders auseinandersetzen. Es geht um andere Denkmuster.

Lukas, eine Frage hätte ich noch, zur Philosophie: Was nehmen wir uns heute da raus? 2020, in Coronazeiten? Wie deuten wir für uns die Quantentheorie alltagstauglich aus?

Lukas Mairhofer: Das zentrale Element für mich ist das Verhältnis von Beobachtung und Beobachtetem. Was ich an diesem Stück wirklich cool fand, ist, dass es so explizit thematisiert wird. Dass es keine unschuldige Beobachtung gibt. Und dass die Fragen, die wir stellen, mitbestimmen, welche möglichen Antworten wir bekommen. Und die Antworten, die wir bekommen, sind auch die Zustände, die die Welt einnimmt. Das sind nicht Antworten im Sinne von „da sagt mir dann jemand was“, das kann auch eine Antwort sein im Sinne von „Da fällt mir was auf den Kopf“, da reden wir von handfesten, materiellen Zuständen.

Jana Schulz: Quantenphysik ist politisch?

Lukas Mairhofer: Auf jeden Fall.

Jana Schulz: Gibt es vielleicht noch einige letzte Fragen, die die Antworten mitbestimmen? Es war auf jeden Fall inspirierend für uns als Beteiligte dieser Produktion.

Nazanin Mehraein: Jetzt verstehen wir besser, was wir machen.

Jana Schulz: Wir nehmen diesen Gedanken von der aktiven Beobachter/Beobachterinrolle mit, und dass es keine unschuldige Beobachtung gibt. Das ist ein wichtiger Gedanke 2020.

Frage aus dem Publikum: Wie lebt man damit im Alltag, mit diesem Bewußtsein? Gibt es mehr Boden oder verunsichert es eher?

Lukas Mairhofer: Auf der einen Seite gibt es Hoffnung. Wir stehen ja einer Welt gegenüber, die wir nicht unter Kontrolle haben. Die mit uns in Wirklichkeit macht, was sie will. Und auf die wir relativ wenig Einfluss haben. Und da kriegen wir vielleicht einen Hebel in die Hand, wie wir doch eine gewisse Wirkmächtigkeit enwickeln können, alleine über diesen Gedanken der eingreifenden Beobachtung.

Es sagt uns auch, dass, so wie die Dinge sind, sie nicht bleiben. Und nicht bleiben müssen. Und sich verändern. Und sich durch uns verändern lassen.

Jana Schulz: Das inspiriert definitiv zu Zivilcourage, oder dazu, sich zu den Omas gegen Rechts, die täglich eine Mahnwache zu Moria abhalten, zu gesellen und mitzugestalten.

Simon Meusburger: Mich fasziniert an der Quantenphysik, dass man in der westlichen Welt auch einen neuen Zugang bekommt zu etwas, was in Jahrtausende alten fernöstlichen Philosophien ein hohes Gut ist: Sei fokussiert, sei dir deiner Gedanken bewusst. Ein Bogen am Schluss zum Stück, weil es ja auch um Bewusstsein geht.

Jana Schulz: Im Sinne von deine Gedanken werden Worte, deine Worte Taten, deine Taten formen dein Leben?

Simon Meusburger: Genau, zum Beispiel.

Jana Schulz: Vielen Dank für das Gespräch.

EMPFEHLT UNS WEITER!

schuberttheater

Das Puppentheater für Erwachsene

0 comments on “Beobachtung verändert die Welt

Comments are closed.